Die Vergegenwärtigung des Gewesenen bedeutet die Aneignung individuellen Seins. In diesem Tun erwächst unsere Vergangenheit aus der Zukunft. Dieses läßt sich vielleicht als ein Leitmotiv der Arbeiten Heidemarie Ehlkes begreifen, das sie über drei Ebenen entfaltet.

Sie wurde als erstes von vier Mädchen in Mölln geboren, wo ihr Großvater auf dem Gelände eines ehemaligen Munitionslagers eine Waldlichtung rodete, um dort gemeinsam mit ihren Eltern eine Baumschule und einen Großhandel für Blumenbindereibedarf und Grabgestecke zu begründen.

In Abkehrung von kristallinen, glatten Oberflächenformen aus der Ton- und Gipsbearbeitung wendet sie sich während des Stipendienaufenthaltes in Lauenburg den Materialien des elterlichen Betriebes zu: Islandmoos, Styropor, Fichtenzweige, Heu, Moos, Baumrinde und entsprechende Befestigungstechniken. Das, was früher um sie herum ausgebreitet die Lebens- und Erfahrungsgrundlage bildete, wird in einer Umwendung von innen nach außen zur Gestaltungsgrundlage ganz persönlicher Kindheitserinnerungen. Diese werden dokumentiert in Schwarz-Weiß-Fotos und künstlerisch entfaltet in einem Ensemble von Arrangements, Tier- und Wesensgestalten. Zum Beispiel das Objekt "Tisch und Stuhl": Hier entfaltet Heidemarie Ehlke das Moos als Metapher für die Geborgenheit des Kindes (im Grimmschen Märchen von Hänsel und Gretel heißt es: "...und die Kinder legten sich ins Moos zum Schlafen." ), als auch für die materielle Existenzgrundlage ("ohne Moos nix los"), die über die Grabgestecke, die aus Islandmoos gefertigt wurden, von den Eltern erwirtschaftet wurde.

Nach Material und biographischen Bezug klingt in diesem Objekt zugleich das dritte Moment im Schaffen der Künstlerin an. Durch Tod und Geburt erfahren wir die Vergänglichkeit und also auch Endlichkeit unseres Erdenseins. Die verwendeten Materialien sind von nicht langer Haltbarkeit. Damit widersetzen sich diese Werke der menschlichen Sehnsucht nach Dauer und Beständigkeit, die sich auch in Kunstwerken widerspiegeln soll. Was jedem künstlerischen, natürlichen und auch menschlichem Lebensprozeß unterliegt, das Entstehen und Vergehen, ist diesen Werken Heidemarie Ehlkes eingeschrieben. Sie erinnern, daß Kunst - im Schaffen und Erleben - wie das Leben selbst nicht konservierbar ist. Ihr Werk entzieht sich willkürlicher Verfügbarkeit: Es ist mit jedem Tag ein anderes, zunehmend Gewesenes und zugleich Werdendes.

Insofern mag dies für den Betrachter denn auch das vielleicht eindrücklichste Erlebnis im Sehen dieser Werke sein: Es gibt kein Leben für die Kunst und auch keine Kunst für das Leben, sondern Leben ist Kunst.

Rüdiger Lunkeit | 1. August 1999
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